| 3.Dezember 2012 | Zur Stralsunder Werft | Mein Kommentar



Die Werft stirbt und nun soll Gott helfen, denn wir kriegens allein nicht hin


‹Arbeit, Zukunft, Leben. Stralsund ohne Werft?› oder ‹Gott, schenke echte Solidarität, die sich nicht in leeren Worten erschöpft›

So lauten einige der vielen stummen Bitten auf kleinen Zetteln an der Gebetsmauer aus Pappe in St. Marien in Stralsund. Ansonsten schweigende Gesichter, ohne Wut. Still nimmt der Pommer hin, genauso wie man es ihm nachsagt. Da kann seine Werft kaputt gemacht werden, und er ist nicht aus seiner Ruhe zu bringen.

Mitte November spielte das Deutsche Theater in Berlin Gerhart Hauptmanns ‹Weber›, während das Theater Vorpommern sich in ihrer ‹Kein Risiko›-Spielzeit hinter Märchen, Operetten und Kriminalkomödien versteckt. Ob die Weberverzweiflung unseren Schiffbauern heute aufhelfen könnte? Ein Werftaufstand, kanns den überhaupt geben? Oder ist in den ‹Hütten› nicht Verfall, Elend und Dürftigkeit, nicht der Menschheit ganzer Jammer genug, wie es Hauptmann einst über der Weber Hütten schrieb?

Den Gesichtern der knapp 400 Arbeiter mit ihren Familien, die zum Friedensgebet in die Marienkirche kamen, war anzusehen, dass sie nicht oft diese ‹große Halle› betreten, manche vielleicht zum ersten Mal. Gemeinde, Schiffbauer und Gewerkschafter hatten nun schon zum dritten Montagsgebet eingeladen, seit die Geschicke der Werft in den Händen von Insolvenzverwaltern, Politikern, Investoren und Schnäppchenjägern liegen, seit die Werftler nicht mehr durch ihr KnowHow, ihre Erfahrung, durch Fleiß und Kraft die Geschicke mit beeinflussen können. Die meisten der gut 1500 Übriggebliebenen harren in der Auffanggesellschaft der Dinge, die da kommen oder versuchen das Schiff Stralsund beruflich, manche von ihnen gänzlich zu verlassen, aus dessen Nebelhörnern scheinbar nur noch ‹Tourist, Tourist› trötet. Da saßen sie nun still, fast schweigend, brummten ungeübt zur großen alten Orgel ein ‹Herr, gib uns deinen Frieden›.

In den Reihen der Kirchenbänke kein Murren, kein lautes Zustimmen. Es war zu spüren, der andächtige Raum flößte den weltlichen Rednern Respekt und Unbehagen ein und so hörte man Worte ohne Kraft und ohne viel Inhalt. Nur Pastor Christoph Lehnert kritisierte, dass von den Ministern und den Verantwortlichen nichts zu hören ist, keine Erklärung, keine Entschuldigung, kein Trost.

An der Zettelwand steht: ‹Herr Bürgermeister, ich habe Sie vermisst.› Er hat wohl alle Hände voll zu tun mit der Rückabwicklung der übriggebliebenen Bücher aus der Gymnasialbibliothek. Können die leblosen Buchrücken und ihre Seiten nicht auch morgen gerettet werden, wenn doch heute für arbeitende Menschen einzustehen ist? Stralsund ohne Werft? Ist das Werftgelände schon begehrt für Hotels und Wohnungen? Unverbaubares Wassergrundstück mit Metallschrott auf dem in Zukunft neue Geschäftsleute Hafencharme an Touristen vermarkten und Altersruhesitze verkaufen. Sind die Werftarbeiter Kraft ihrer täglichen Arbeit selbst Schuld daran, dass zuletzt auch die kleinen und großen Pötte auf See dem Ruf nach Fernost folgen, wie längst schon die allermeisten Produkte, die billig von dort zu uns kommen. 22 Jahre gab es jährliche kleine und große Krisen, wurde entlassen und auf Zeit wieder eingestellt, auf Lohn verzichtet, Überstunden gemacht, demonstrierten Männer am Werfttor, wurde Hoffnung geschwafelt, gaben sich Werfteigner und Geschäftsführer die Klinke in die Hand. Zuletzt sollten die Schiffbauer eigenes Kapital zur Rettung beisteuern, während die Entscheider die wirkliche Wirtschaftslage verschleppten, Politiker die Augen verschlossen, Gewerkschafter nun kraftlose Worte sprechen und Schiffbauer stumm in Kirchenbänken hocken. Wen wundert es? Sind die Schiffbauer müde geworden?

 Einst waren es Werftarbeiter, die einen Aufbruch begannen. Das war in Polen. Und während Stralsund noch immer Schiffbau durch viele Poren atmet, liegen halbfertige Schiffe im Trockendock. Was braucht da eine Werft, was braucht da eine Stadt? Männer, denen Kraft und Entschlossenheit noch ins Gesicht geschrieben steht, die nach 30 oder 40 Jahren Schiffbau aussehen, die aber jetzt wie gelähmt dasitzen und abwarten, bis die gierige Finanzschlange alles vertilgt hat. Keiner poltert, keiner hat Ideen, keiner traut sich, im Anschluss an den Gottesdienst nach Antworten verlangend durch die weihnachtliche Stadt vor das Rathaus zu ziehen. (Wie einst die Weber). Warum drängen sich statt vierhundert nicht vier- oder vierzigtausend Leute in der Kirche, wenn es doch um eine ganze Region geht.

Wie viel Wirtschaftskrise ist notwendig, um einen Pommern aus seiner Ruhe zu bringen?


Text: Annett Geldschläger  |  Foto: Jens Frank

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